Ich
war gescheitert! Nach acht Monaten hatte ich auf Anraten meiner
Arbeitgeber gekündigt und stand nun quasi vor dem "Nichts".
Ohne Anerkennungsjahr galt mein Sozialpädagogikstudium als nicht
abgeschlossen.
Gewiss,
ich hätte nicht kündigen müssen, trotz der schweren Differenzen
mit der Jugendclubleitung, und hatte auch jetzt noch die Chance, das
Anerkennungsjahr in einer anderen Einrichtung binnen zwei Jahren zu
wiederholen. Aber wollte ich das? Oder besser gefragt: War das mein
Weg?
Seit
meiner Bekehrung zum christlichen Glauben im Jahre 1985 war ich
überzeugt, dass es den richtigen Weg für mich gab. Das ich ihn nur
herausfinden musste und darauf vertrauen konnte, dass er mir schon
gezeigt werden würde. Dies jedenfalls versprach die Bibel: "Ich
will dich unterweisen und dir den Weg zeigen, auf dem du wandeln
sollst!" Und so lautete mein Gebet in jenen Tagen auch: "Herr,
zeige mir den Weg, den ich wählen soll!"
Wie
gewohnt suchte ich Mittwoch abends die „Jüngerschaftsschule“ im
Jesushaus auf. Man könnte es als eine Fortbildungslehrgang in Sachen
Christsein verstehen. An zwölf verschiedenen Abenden wurde jeweils
ein Thema durchgenommen. An diesem Tag stand der Lobpreis auf dem
Programm, in Anlehnung an das alte Jakobuswort: "Wer sich
Gott naht, dem naht sich Gott!"
Nach
einer theoretischen Einführung in das Thema folgte am Ende ein
praktischer Teil. Das Leiterteam und wir Teilnehmer stellten uns in
einem Rundkreis auf und die Lobpreisleitung, ausgestattet mit
Akustikgitarren, begann ein christliches Lied anzustimmen.
Im
Grunde war der Lobpreis nicht wirklich etwas Neues, geschah es doch
quasi in jedem Gottesdienst. Entscheidend ist es dabei in eine Art Flow zu geraten und nicht in einem routinemäßigem Absingen
von Liedern stecken zu bleiben.
An
diesem Abend aber war dieser Flow deutlich zu spüren. Wie die
meisten Anderen stand ich mit geschlossenen Augen und himmelwärts
gestreckten Armen da, als ich plötzlich deutlich die leise
geflüsterten Worte: „Breite Straße“ vernahm. Ich war so
überrascht, dass ich augenblicklich die Augen öffnete und nach der Wortquelle suchte.
Meine
beiden Nebenmänner waren im Lobpreis vertieft. Ganz offensichtlich
waren die Worte nicht von ihnen gekommen. Aber wer war es dann
gewesen?
Es
blieb eigentlich nur eine Interpretation offen: Es war ein
übernatürliches Reden geschehen. Aber was sollte mir damit
gesagt werden? Breite Straße, breite Straße, überlegte ich. Mir
fiel ein Bibelvers ein: „Gehet ein durch die enge Pforte. Denn die
Pforte ist weit, und der Weg ist breit, der zur Verdammnis abführt;
und ihrer sind viele, die darauf wandeln.“
Ich
nutzte eine kurze Stille zwischen zwei Liedern und sprach den Vers
als eine Weissagung (Reden Gottes) in die Runde hinein.
Es
wurde unkommentiert hingenommen und kurz darauf war die Lobpreiszeit
auch beendet. Wenig später verließ ich das Jesushaus und fuhr
mit meinem Fahrrad gleich nach Hause.
Am
nächsten Tag war es nun so, dass ich zu einem Gespräch im Jugendamt
verabredet war. Als ich das große Wilhelm-Marx-Haus betrat, warf ich
zwecks Raumsuche einen Blick auf die riesige, im Foyer angebrachte
Hinweistafel.
Ich
hatte die gesuchte Zimmernummer gerade gefunden, als mir plötzlich
auffiel, dass auf der Glasscheibe ein Zettel angebracht war. Ich las
erstaunt mit ungläubigen Augen: „Wir sind umgezogen in die Breite
Straße!“
Natürlich fiel mir
sofort wieder die das übernatürliche Reden vom Vorabend ein.
"Breite Straße" Die gehörten Worte standen nun plötzlich
geschrieben da.
Nachdem
ich mich von der ersten Überraschung erholt hatte, schaute ich, wer
denn umgezogen war. Das BaföGamt! Ein neuerliche Überraschung!
Was soll das?, dachte ich. Soll ich etwa auf eine Bibelschule
gehen? Ich hatte nämlich einmal gehört, dass es eine gäbe, die
bafögmäßig gefördert wurde.
Aber das ist doch
Blödsinn! Ich bin doch schon über 27 und mit Sicherheit nicht mehr
BAföG-berechtigt. Andererseits, ein solcher Zufall! Das musste eine
Bedeutung haben!
Noch ganz
in Gedanken machte ich mich auf den Weg zum verabredeten Termin.
Vier
Tage später schaute ich aus meinem Zimmerfenster. Es goss draußen
in Strömen. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen an diesem Vormittag
das Bafög-Amt in der "Breite Straße" aufzusuchen. Aber
beinahe schien es so als ob sich der Himmel gegen mich verschworen
hätte.
Wieder kamen mir Zweifel. War das mit der Bibelschule nicht einfach eine dumme, nicht
realisierbare Idee? Ein Luftschloss? Gewiss, da war diese seltsame
Geschichte mit dem übernatürlichen Reden und dem Zettel auf der
Hinweistafel, was mir einen Fingerzeig in Richtung Bafög-Amt zu
geben schien. Aber dagegen standen die einfachen gesetzlichen Fakten.
Wenn eine Bibelschule überhaupt gefördert wurde, so war ich für
eine solche Förderung auf jeden Fall zu alt. Mal ganz abgesehen
davon, dass ich auch während meines ersten Studiums kein Bafög
erhalten hatte.
Eine Weile rang ich mit
mir. Dann traf ich eine Entscheidung: Gut, ich werde bis 11 Uhr
warten. Wenn es dann nicht aufgehört hat zu regnen, vergesse ich die
ganze Angelegenheit.
Gegen
10.50 Uhr schaute ich erneut aus dem Fenster. Nach wie vor goss es in
Strömen. Innerlich begann ich mich schon darauf einzustellen, meinen
Bibelschultraum abzuhaken. 10.58 Uhr. Nach wie vor goss es in
Strömen. OK, dass war es dann wohl, dachte ich leicht enttäuscht.
Es war halt eine alberne Idee gewesen.
Als ich aber
sicherheitshalber Punkt 11 Uhr noch einmal aus dem Fenster schaute,
glaubte ich für einen Moment meinen Augen nicht zu trauen. Es hatte
komplett aufgehört zu regnen, wie als wenn jemand den Regenhahn
zugedreht hätte. Das gibt es nicht! dachte ich. Und wusste doch im
gleichen Augenblick, dass dies kein Zufall war.
Wenige
Minuten später verließ ich meine Wohnung und machte mich auf den
Weg in die „Breite Straße“.
Die
Sekretärin im Bafög-Amt schaute mich erstaunt an. „Eine
bafög-geförderte Bibelschule? Moment, ich schaue am besten einfach
mal nach.“ Sie holte einen Aktenordner aus dem Schrank, setzte
sich und begann darin zu blättern. „Ah, hier“, sagte sie
und blickte freundlich zu mir hoch. „Es gibt tatsächlich zwei
Bibelschulen, die als förderungswürdig gelten. Eine ist in
Erzhausen und die andere in Wolfenbüttel.“
Also
doch!, dachte ich. Aber an sich war dies ja auch das geringere
Problem gewesen. „Ja“, sagte ich, „aber vielleicht bin ich ja
schon etwas zu alt für Bafög. Immerhin bin ich ja schon dreißig!“
Sie
schien für einen kurzen Moment nachzudenken. Dann entgegnete sie:
„Wissen Sie was? Ich gebe ihnen einfach mal ein Antragsformular mit
und Sie bringen es mir dann nächste Woche ausgefüllt zurück. Dann
können wir ja weitersehen!“
Als
ich wenig später wieder draußen auf dem Gehweg befand, dachte ich:
Eigentlich ist es besser gelaufen als gedacht. Die Sache scheint
tatsächlich nicht ganz aussichtslos zu sein. Den Rest des Weges ließ
ich einer Tagträumerei freien Lauf.
Ein
paar Tage später reichte ich einen warf ich einen Förderungsantrag
für eine theologische Ausbildung an der „Bibelschule Beröa“ in
Erzhausen in den Briefkasten des Bafög-Amts. Das Weitere lag nun
nicht mehr in meinen Händen. Es begann eine Zeit des Wartens
Nach
etwa zwei Woche erhielt ich dann ein Antwortschreiben. Angespannt
überflog die Zeilen bis zu : „ ... lade ich Sie zu einem klärenden
Gespräch ein“. Unterschrieben vom Amtsleiter des Bafögamtes. Ich
atmete erleichtert durch. Mein Traum war also noch nicht zu Ende.
In
den nächsten Tagen fragte ich mich manchmal, wieso ich keinen
ablehnenden Bescheid erhalten hatte. Ich konnte mir einfach nicht
vorstellen, dass ich als Dreißigjähriger noch Bafög erhalten
könnte. Andererseits sagte ich mir: Die Sache hat übernatürlich
begonnen und Gott macht bestimmt keine halben Sachen.
Dann
endlich war es soweit. Mit gespannter Zuversicht machte ich mich auf
den Weg zum klärenden Gespräch im Bafög-Amt. Wie würde es wohl
ausgehen? Barfuß oder Lackschuh? Als ich wenig später die Amtsstube
betrat, begrüßte mich ein kleiner, etwa 50jähriger Mann mit
Handschlag und wies auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch: "Nehmen
Sie doch bitte Platz!"
Mein Gegenüber kam
schnell zur Sache: „Herr ..., ich will nicht lange drum herumreden.
Ich habe Ihren Antrag geprüft und es besteht eine Möglichkeit, dass
wir Sie fördern!“ Das hörte sich gut an. Ich entgegnete: „Obwohl
ich schon dreißig bin?“ Er lächelte: „Nicht obwohl, sondern
weil sie dreißig Jahre alt sind!“ Ich schaute ihn erstaunt an.
Er
erklärte mir, dass es eine Regelung für die Förderung von
Studiumabbrecher gäbe: „Bedingung ist, dass der Antragsteller in
seinem ersten Studium nicht bafögmäßig gefördert worden ist und
dass er dreißig Jahre alt ist. Und zwar exakt dreißig Jahre alt!“
Er lächelte: „Beide Bedingungen erfüllen Sie. Wären Sie ein
halbes Jahr später gekommen, also mit 31, würde diese
Ausnahmeregelung nicht mehr für Sie gelten.“
Ich
war sprachlos. Welch ein Glück! „Allerdings“, fuhr mein
Gegenüber fort, „müssten Sie mich noch überzeugen, dass die
Gründe für die Nichtbeendigung ihres Studiums schwerwiegend genug
sind! Denn nur dann kann ich Ihrem Antrag zustimmen!“ Er schwieg
und schaute mich erwartungsvoll an.
Ich
begriff, dass ich jetzt eine einmalige Chance erhalten hatte. Einen
kurzen Augenblick sammelte ich meine Gedanken. Dann begann ich zu
erzählen von meinen Schwierigkeiten in meinem Anerkennungsjahr, die
letztendlich zum Bruch mit der Leitung des Jugendclubs geführt
hatte. „Sie sehen“, sagte ich,“ dass am Ende mein Glaube und
die Arbeit unvereinbar waren. Es ging einfach nicht mehr!“
Er hatte seine Hände
während meines Erzählens wie zum Gebet gefaltet unter seinem
Kinn gehalten. In dieser Pose verharrte er auch jetzt noch einen
Moment. Seine Miene verriet keine Regung. Dann plötzlich senkte er
dir Hände, lächelte mich freundlich an und sagte dann: „Sie haben
mich überzeugt! Wir werden ihre theologische Ausbildung bafögmäßíg
fördern. Die ersten beiden Jahre ohne, das dritte Jahr mit
Rückforderung. Aber erst wenn Sie in Lohn und Brot sind!“ Er
stand auf, reichte mir die Hand und sagte: „Alles Gute auf Ihrem
weiteren Lebensweg."
Als
ich wieder zuhause war, konnte ich mein Glück nicht fassen. Das
schier Unmögliche war wahr geworden. Mir war - trotz meines
Alters - tatsächlich für drei Jahre Bibelschule das Bafög gewährt
worden. Ein echtes Wunder, besonders wenn man bedenkt, dass alles mit
jenem rätselhaftem Wort „Breite Straße“ während der
Lobpreiszeit begonnen hatte.
In
der Folge bedurfte es aber noch eines weiteren Wunders. Der Pastor
des Jesushauses hatte „zufällig“ in der Nähe der Bibelschule zu
tun und schlug mir vor, dass ich ihn ja begleiten und meinen Antrag
persönlich an der Bibelschule abgeben könnte. Eine glückliche
Fügung, wie sich noch herausstellen sollte.
Als ich nämlich gerade
den Antrag im Sekretariat der Bibelschule abgeben wollte, kam
„zufällig“ der Bibelschuldirektor zur Tür herein. Nach einem
kurzen erstaunten Blick begrüßte er meinen Pastor wie einen alten
Bekannten und fragte ihn nach dem Grund seines Besuches. Der verwies
auf mich und mein Anliegen und so landete ich wenig später zu einem
Gespräch im Büro des Direktors.
Natürlich erzählte ich
ihm die ganze Geschichte der wundersamen Bewilligung meines Bafögs,
was den Direktor aber nicht sonderlich zu beeindrucken schien: „Sieh mal hier,“ sagte er, zog eine Schreibtischschublade auf und
holte einen Stapel Blätter hervor. Dann legte er sie auf den Tisch:
„Das sind über dreißig Bewerbungen für das neu beginnende
Schuljahr. Aber ich habe nur noch zwei Plätze zu vergeben.“ Ich
erschrak.
Der
Direktor legte die Anträge wieder in die Schublade zurück und
lehnte sich in seinem Sessel zurück „Ich bewillige deinen Antrag
nur aus einem einzigen Grund. Nicht wegen deiner tollen Wundergeschichte, sondern einzig und allein, weil dein Pastor
sich die Mühe gemacht hat dich persönlich hierher zu fahren.
Ansonsten hättest du den Platz nicht bekommen.“ Er lächelte:
„Danke deinem Pastor und Gott, der diesen Umstand wohl so
gefügt hat.“
So
kam es dann, dass ich etwa acht Wochen später in ein Dreibettzimmer
auf der Bibelschule Beröa (Erzhausen/ Nähe Darmstadt)
einzog. Ein völlig neuer Lebensabschnitt begann, von dem ich dann
vielleicht an anderer Stelle erzählen werde.
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