Montag, 27. Oktober 2014

Das Licht auf dem Berge

  Das Foto ist von hier

Da redete Jesus abermals zu ihnen und sprach: Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben. (Johannes 8,12)

 „Aber du musst doch auch einmal sehen, was die Kirche und die Christen in den letzten 2000 Jahren alles verbrochen haben. Das kann man doch nicht einfach ignorieren!“, sagte Anke mit vorwurfsvoller Stimme und einem leicht empörten  Gesichtsausdruck
  „Ja, du hast ja recht!“, lenkte ich ein. „Aber man sollte auch nicht das Gute übersehen, was von der Kirche und den Christen ausgegangen ist. Im Übrigen ist der Glaube an Gott erst einmal eine ganz persönliche Angelegenheit!“
   
Wieder einmal saß ich bei Anke und Dietmar im Wohnzimmer und versuchte sie von der Richtigkeit des Glaubens zu überzeugen. Was bei ihnen unterschiedliche Reaktionen hervorrief. Während Dietmar grundsätzlich, wenn auch ohne persönliche Konsequenzen, an die Existenz Gottes glaubte und sich ziemlich neutral verhielt, hatte Anke von Anfang an eine Art Frontalopposition eingenommen.
     Nichts von dem, was ich sagte, hatte bislang vor ihrem ablehnendem, teilweise vernichtenden Urteil Gnade gefunden. Und vermutlich war es nur unserer langjährigen Freundschaft geschuldet, dass sie mir überhaupt noch bei diesem Thema zuhörte.
   Ich hatte beide über das Schachspielen kennengelernt und war eine Zeitlang fast täglich bei ihnen ein- und ausgegangen. Dann aber geriet ich in jene tiefe Sinn- und Lebenskrise, die letztlich im Juni 1985 zu meiner Hinwendung zum christlichen Glauben geführt hatte.
   In jenen Monaten hatte ich sie nur noch sporadisch besucht, dann aber nach meiner Bekehrung wieder meine regelmäßigen Besuche, diesmal aber im 2-3 Wochenrhythmus aufgenommen. Natürlich schon mit dem Hintergedanken, sie von der Richtigkeit des christlichen Glaubens zu überzeugen. „Zu missionieren“, wie ich damals gesagt hätte. 

An diesem Abend hatten unsere Gespräche schon längst wieder den üblichen Verlauf genommen, als ich mich angesichts des heftigen Widerstandes von Anke fragte, ob meine Besuche grundsätzlich gesehen überhaupt noch einen Sinn machten. Die Argumente waren längst alle ausgetauscht und seitdem ich kein Schach mehr spielte, war diesbezüglich nur noch wenig Gesprächsstoff vorhanden.
    Okay, sagte ich zu mir selber, das ist heute das letzte Mal. Danach werde ich sie in Ruhe lassen! Und so holte ich aus, ihnen noch einmal grundsätzlich meine Position und Argumente darzulegen.
 
Dieses eine Mal hörte Anke ruhig zu und begann dann plötzlich sogar Nachfragen zu stellen. Das hat sie doch noch nie getan. Was ist denn jetzt auf einmal los?, fragte ich mich leicht irritiert.
   Und als wenn sich plötzlich der Wind gedreht hätte, war in der Folge nicht mehr der geringste Widerstand zu spüren. Und nicht nur, dass sie klug nachfragte, sie schloss auch bemerkenswerte Folgerungen aus dem Gesagten. Auf einmal schien sie alles zu verstehen und anzunehmen. Ich konnte es einfach nicht fassen!
   Wenn Dietmar diese Wandlung Ankes ebenfalls irritiert haben sollte, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Etwa gegen 23 Uhr zog er sich mit den Worten: „Ich bin müde und leg mich jetzt Schlafen! Aber ihr könnt ja ruhig noch weiter diskutieren“, ins Schlafzimmer zurück. 
    Ein Vorgang, der nicht ungewöhnlich war, denn er war berufstätig und musste am nächsten Morgen zur Arbeit. So blieben Anke und ich also alleine im Wohnzimmer zurück. 

Wir hatten uns noch eine ganze Weile angeregt unterhalten, als Anke plötzlich aufstand und mit den Worten: „Also, ich mal jetzt mal schöne Musik“, rüber zum Plattenspieler ging. „Gute Idee!“, sagte ich und stand ebenfalls auf. Vom langen Herumsitzen waren mir die Beine schwer geworden und ich nutzte die Gelegenheit, sie mir im Zimmer etwas zu vertreten.
   Während sie also nun mit der Plattenwahl beschäftigt war und ich mir im Zimmer die Beine vertrat, vernahm ich auf einmal recht deutlich eine innere Stimme: Frag sie, ob sie sich nicht zum Glauben bekehren möchte!
   Ich war erst überrascht, dann zutiefst erschrocken. Mit jemandem über den Glauben zu diskutieren ist eine Sache, ihn oder sie aber zur Bekehrung aufzufordern, eine andere. Sie wird sich vielleicht bedrängt fühlen, dachte ich, und womöglich heftig reagieren! Ich zögerte.
   Andererseits hatte ich aber die innere Stimme deutlich vernommen. Um dies zu leugnen, hätte ich mich schon selber belügen müssen. Schließlich ging ich zu ihr hinüber und sagte so beiläufig wie möglich: „Anke, darf ich dir mal eine Frage stellen?“ Sie blickte überrascht von ihren Platten hoch und sagte: „Ja, worum geht`s?“
  Nun gab es kein Zurück mehr. Ich überwand meine Furcht und fragte sie ganz behutsam: „Anke, möchtest du dein Leben nicht Jesus übergeben?“
  Für einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen im Raum. Dann aber sagte sie beinahe schüchtern: „Aber ich weiß doch noch so wenig darüber!“ Ich atmete erleichtert durch. Sie hatte zumindest nicht wie befürchtet heftig reagiert.
   „Ach“, entgegnete ich. „das macht nun wirklich nichts! Als ich mein Leben Jesus übergeben habe, wusste ich auch nicht allzu viel darüber. Entscheidend ist nur, dass man es will. Der Rest ergibt sich dann schon.“ Sie schaute erst noch skeptisch vor sich hin, aber nach einigem guten Zureden willigte sie schließlich ein. „Okay“, sagte ich, „dann lass uns gemeinsam beten!“
 
Wenig später saßen wir schweigend und mit geschlossenen Augen am Wohnzimmertisch. Schließlich fing Anke in recht einfacher, aber dennoch respektvoller Art an zu beten. Sie bat Gott um Vergebung für ihr bisheriges Leben ohne ihn und sagte dann die entscheidenden Worte:  „Ich bitte dich, Herr Jesus, dass Du in mein Leben kommst. Amen!“ 
   Ich atmete erleichtert durch.     
Kurz darauf begann ich dann selber zu beten und dankte Gott, dass Anke nun tatsächlich den Weg zum Glauben gefunden hatte. Und dass Er sie nun auch auf ihrem weiteren Lebensweg leiten und beschützen möge.
 
Während ich so betete, kam mir plötzlich ein Gedanke in den Sinn. Ich überlegte kurz, ob ich ihn aussprechen sollte. Dann aber tat ich es: „Anke, Jesus sagt zu dir: Ich bin das Licht auf dem Berge!
   Ich hatte die Augen geöffnet, als ich sie ansprach und sah nun, dass sie ihre Augen jetzt ebenfalls öffnete. Sie blickte mich völlig erstaunt an und sagte dann: „Weißt Du, Heiner, was ich gerade erlebt habe?“ Ich schaute sie fragend an.
  „Als du betetest, sah ich vor meinem inneren Auge auf einmal einen im Halbdunkel liegenden Berghang. Man könnte eine Wiese und Bäume erahnen, aber nichts Genaues erkennen. Mit einem Mal erschien auf der Bergkuppe ein unwahrscheinlich helles Licht und begann schlagartig den ganzen Berghang zu erleuchten.“
   Sie machte eine kleine Pause und fuhr dann fort: „Und gerade als ich mich fragte, was dies denn für ein Licht sei, sagtest du, Jesus sagt zu dir: Ich bin das Licht auf dem Berge!“
  Für einen kurzen Moment war ich richtig geplättet. Dann hatte ich mich wieder gefasst. „Weißt Du, was das bedeutet, Anke?“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, fuhr ich fort: „Das bedeutet, dass Jesus dir eine direkte Antwort gegeben hat! Damit du sicher weißt, dass du den richtigen Schritt getan hast. Unglaublich!“ Sie strahlte nun über das ganze Gesicht und nickte: „Ja, das ist dann wohl so!“
  Mir fiel ein Satz ein, den ich irgendwo einmal aufgeschnappt hatte: Wenn wir uns einen Schritt auf Gott zubewegen, kommt er uns mit einem Riesenschritt entgegen! Ich sprach ihn aus. Anke lächelte zustimmend.
 
Es war schon weit nach Mitternacht, als Anke sich ins Schlafzimmer zurückzog und ich es mir auf dem Sofa im Wohnzimmer "bequem" machte. Aufgewühlt von den Ereignissen des Abends fand ich allerdings erst recht spät in einen unruhigen Schlaf.   
   Als ich am nächsten Morgen aufwachte, verspürte ich ein seltsam stechendes Gefühl in der Magengegend. Als wenn jemand in meinen Eingeweiden herumgewühlt hätte. Da bin ich gestern Nacht wohl irgendwie an meine Grenzen gestoßen, dachte ich. Es war ja auch eine recht „schwere Geburt“ gewesen.
     Auf einmal kam mir ein anderer Gedanke: Ob sie jetzt am Morgen die Sache noch genauso sehen wird wie gestern Nacht? Oder doch vielleicht einen Rückzieher machen wird? Ich war mir nicht sicher.
   
Als sie wenig später ins Wohnzimmer kam, strahlte sie mich an: „Guten Morgen, Heiner! Hast du gut geschlafen?“ „Geht so“, entgegnete ich, „fühle mich aber noch etwas schlapp.“       
   "Weißt du, was ich heute Morgen als erstes zu Dietmar gesagt habe?“ Ich schaute sie fragend an. Sie lächelte: "Ich habe zu ihm gesagt: Ich bin jetzt auch ein Kind Gottes!"
   Ich war bass erstaunt wegen ihrer Wortwahl. Meiner Ansicht nach hatte ich den Begriff Kind Gottes, obwohl er biblisch ist, ihr gegenüber nie erwähnt: "Und“, fragte ich, “wie hat er reagiert?" "Ach, er hat mich erst mit großen Augen angeschaut und dann gesagt: „Na, das ist doch schön. Gratuliere!" Sie lachte: "Komm, wir gehen in die Küche! Erst einmal etwas frühstücken!"
 
Ja, und hier endet diese kleine wahre Geschichte. Anke schloss sich einige Zeit später einer Baptistengemeinde an und ist, soviel ich weiß, auch heute noch gläubig.
 
                                                    

Mittwoch, 27. August 2014

Die geschenkten Handschuhe (1994)


Vor einer Reihe von Jahren nahm ich in Bremen an einem christlichen Studentenfrühstück teil. Bei Speis und Trank ging es recht locker und gesprächig zu, so dass der Vormittag wie im Fluge verging. Schließlich schlug Pastor Helms die Bibel auf und sagte: „So, ihr Lieben! Zeit für eine kleine Andacht!“ Sogleich verstummten die Gespräche, Kaffeetassen wurden  hingestellt, Stühle zurecht gerückt und erwartungsvoll in Richtung des Pastors geblickt. Denn er war allgemein bekannt für recht anschauliche und inspirierende Predigten.      

Das seiner Andacht zugrunde liegende Bibelwort habe ich vergessen, aber nicht die dazu gehörende Anekdote. So war er eines Tages in einer ihm unbekannten Stadt mit dem Auto unterwegs gewesen, als er feststellte, dass er wohl irgendwo falsch abgebogen sein musste. Das Klügste wäre natürlich gewesen, sofort zum Abbiegepunkt zurückzukehren und dann den richtigen Weg zu nehmen.
     Aber wie das so ist. Er war in Zeitdruck und hoffte, dass er sich schon irgendwie ans Ziel gelangen würde. Und so fuhr er seinem Gefühl folgend weiter, bis er schließlich in einer Sackgasse landete: „Hier ging es absolut nicht weiter und es blieb mir nichts anderes übrig, als nun doch reumütig den Rückweg anzutreten.“
     Schließlich erreichte er mit vielem Nachfragen und erheblicher Verspätung doch noch sein Ziel. „Warum habe ich euch das erzählt?“, fragte er in die Runde, um gleich selber die Antwort zu geben. „Diese kleine Episode hat mir ein Stückweit gezeigt, wie es mit meiner Umkehrbereitschaft  bestellt ist. Anstatt meinen Fehler  einzusehen und mich sofort ohne allzu großen Schaden auf den Rückweg zu machen, wollte ich die Sache noch zum Guten wenden. Das Ende vom Lied: Am Ende musste ich doch umkehren, jetzt aber mit größerem Schaden.“

Als ich wenig später des Pastors Haus verließ und mich zu meinem Fahrrad begab, erwartete mich eine unangenehme Überraschung. Die Luft war aus dem Hinterreifen gewichen und Aufpumpaktionen verliefen ergebnislos. "Mist!", fluchte ich leise in mich hinein. Es blieb mir nichts Anderes übrig, als mein Fahrrad zu schieben. Zu allem Überfluss fing es jetzt an diesem sowieso schon grau-trüben Januartag auch noch an zu nieseln. Was meine Stimmung nicht gerade besserte. Eine Dreiviertelstunde würde ich jetzt auf jeden Fall bis zur Uni brauchen.
    Ich mochte etwa zehn Minuten die Straße entlang gelaufen sein, als ich auf einmal zu meiner Überraschung in der Ferne die Silhouette der Bremer Uni auftauchen sah. Allerdings lag dazwischen ein nicht überschaubarer Wiesengrund mit gelegentlichem  Buschwerk.
     Ich begann nachzudenken. Jetzt querfeldein  zu gehen würde auf jeden Fall eine erhebliche Abkürzung bedeuten. Andererseits war das Gelände, eine Art Einöde und Niemandsland, schwer einzuschätzen. Sollte ich nicht vielleicht doch besser  die Straße entlang gehen, auch wenn es eigentlich ein Umweg war? Ach was, dachte ich plötzlich, frisch gewagt ist halb gewonnen!   

Am Anfang ging es auch ganz es leicht. Es  führte ein kleiner Trampelpfad ins Gelände hinein, auf dem sich bequem das Fahrrad schieben ließ. Aber  schon etwa nach hundert Metern hörte auf einmal der kleine Weg auf und plötzlich erwies sich der  Boden unter mir doch als recht feucht und lehmig. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich wieder zurückgehen sollte. Dann entschied ich mich aber für das Weitergehen.
    Nach weiteren hundert Metern war klar, dass ich mich verschätzt hatte. Der Boden wurde immer matschiger und unwegsamer, und meine Stimmung begann noch weiter zu sinken. Erneut kam mir der Gedanke, vielleicht besser umzukehren. Aber mein Stolz war stärker. Jetzt wollte ich es wissen. Trotzig schob ich das Fahrrad weiter.
     Nach etwa zweihundert weiteren Metern war es dann "amtlich". Vor mir war ein mit Wasser gefüllter Graben, der trockenen Fußes nicht zu bewältigen war. Einen Moment überlegte ich tatsächlich, ob ich die nassen  Füße nicht akzeptieren sollte. Dann aber siegte die Vernunft. Ich gestand mir ein, einen Fehler gemacht zu haben und gab auf.
   Im gleichen Augenblick fiel Pastor Helms kleine Andacht wieder ein: Und erst als ich in eine Sackgasse geraten war und es nicht mehr weiterging... Und mit einem Mal begriff ich, dass ich in eine göttliche Lektion geraten war. Dies war sozusagen eine praktische Illustration der kurz zuvor gehörten Anekdote. Ich drehte mich und das Fahrrad herum und machte mich wortlos auf den Rückweg

Eigentlich könnte man diese kleine Anekdote hier enden lassen. Aber es geschah noch etwas, was die  Angelegenheit  mir noch "vergolden" sollte. Denn ich war nur wenige Meter gegangen, als plötzlich mitten in der Einöde zwei nagelneue Skihandschuhe vor mir auf dem Boden lagen.
    Für einen kurzen Moment war ich völlig verdattert: Wie um alles in der Welt sind die denn hierher gekommen?  fragte ich mich. Der Gedanke, dass noch jemand anders sich hierher verirrt haben und dabei Skihandschuhe weggeworfen oder verloren haben könnte, grenzte ans Absurde.
    Ich schaute mich um. In einiger Entfernung war eine Böschung aufgeschüttet, die an der eine Autobahn entlang führte. Aber die Vorstellung, dass jemand seinen Wagen auf der Standspur abstellt hätte und dann die Böschung herunter gestiegen wäre, um mitten in einer matschigen Wiesenlandschaft ein paar nagelneue Skihandschuhe abzulegen, war ebenso grotesk. Es blieb einfach ein Rätsel. Oder ein Wunder!
    Denn hinzu kam auch noch der Fakt, dass ich ausgerechnet an dieser Stelle vorbeigekommen war. Ein paar Meter weiter rechts oder links auf diesem riesigen Gelände, und ich hätte die Handschuhe nicht gesehen. Nun lagen sie da vor mir auf dem Boden wie ein für mich vorbereitetes Geschenk !
  Ein vorbereitetes Geschenk? Ja, denn ich war schon seit Wochen ohne Handschuhe mit dem Fahrrad unterwegs gewesen und hatte so manches Mal schon gefroren. Und diesem Umstand sollte jetzt wohl abgeholfen werden. Natürlich war es gleichzeitig auch ein kräftiges Trostpflaster nach dieser etwas demütigenden Umkehrlektion. Ich hob die Handschuhe auf und zog beglückt von dannen!

Samstag, 14. Juni 2014

Irren ist menschlich!

Vor einer Reihe von Jahren, genauer gesagt im Alter von 41 Jahren, wusste ich nicht so recht, wie es in meinem Leben weitergehen sollte. Und so entschloss ich mich erst einmal nichts zu tun und abzuwarten.
Als nach einer Weile aber immer noch nicht groß etwas geschehen war, wurde bei einigen Christen Kritik laut. Frei nach dem Motto: Ein faules Leben ist kein gottgefälliges Leben!
    Ich muss sagen, dass mir das schon ziemlich zusetzte. Ganz offensichtlich kannten sie nicht den alten Indianerspruch: "Lauf erst einmal ein halbes Jahr in den Mokassins eines Anderen, bevor du über ihn urteilst!"  Und überhaupt, wenn sie schon über mich urteilten, wie kamen sie zu so einer Fehleinschätzung? 

Während dieser Zeit kam ich eines Tages in die Unibibliothek. Ich hatte gerade den Bücherbereich betreten, als ich auf einmal eine junge Frau laut "Irren ist menschlich!" sagen hörte. Ungewöhnlich laut für einen solchen Ort. Und ich hatte sofort das Gefühl, dass dies eine göttliche Botschaft für mich sein könnte.
   Ich wollte mich nun auf den Weg zu meinem Lieblingsplatz machen, als mir auf einmal ein seltsamer Gedanke in den Sinn kam: Mach doch erst einmal einen Rundgang durch die Bibliothek! Ich blieb stehen. Warum eigentlich nicht, dachte ich plötzlich und ging los.      
     Ziellos wanderte ich die Bibliotheksgänge entlang, ohne auf irgendetwas groß achtzugeben. Schließlich stoppte ich vor einem x-beliebigen Bücherregal und griff einfach "blind" ein Buch heraus.
   Als ich Sekunden später den Titel des Buches las, staunte ich nicht schlecht: Über den Irrtum! stand dort. Natürlich kamen mir sofort wieder die Worte der jungen Frau in den Sinn, die mich innerlich so stark berührt hatten: Irren ist menschlich. Was für ein Zufall!
    
Ein Zufall? Mit Sicherheit nicht! Nach einem Blindflug durch die Bibliothek vorbei an -zig tausenden  Büchern hielt ich nun dieses Buch über den Irrtum in den Händen. Unglaublich, dachte ich. Erst die Botschaft der jungen Frau und nun dieses Buch. Ganz offensichtlich sollte ich es jetzt lesen.
   Als ich es zwei Stunden später wieder schloss, verspürte ich eine tiefe innere Erleichterung und einen starken Trost. Ich verstand auf einmal, dass der Irrtum ein wesentlicher Bestandteil des Lebens ist, von dem sich niemand freisprechen kann.  
    In diesem Sinne war es dann eigentlich auch nicht weiter verwunderlich, dass ich von einigen Christen so falsch beurteilt worden war. Irren ist menschlich, dachte ich, auch unter Gotteskindern!

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